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Verschoben
26.07. — 28.09.2025
Artists
Gregor Hildebrandt, Lena Henke, Yngve Holen und Felix Kultau
Verschoben
Eine Ausstellung des Kunstverein Wiesen im öffentlichen Raum
Zwischen Sparkasse und Schloss, Kirchweg und Kindergarten, Brauwirtschaft und Bach zeigt sich, wie Kunst Räume verschiebt – nicht nur physisch, sondern auch begrifflich, atmosphärisch und gesellschaftlich. Die Skulpturen, die im Rahmen der Ausstellung Verschoben an verschiedenen Orten des Dorfes auftauchen, sind keine Ergänzungen einer vorhandenen Kulisse. Sie stören, markieren, überlagern, greifen ein – leise oder deutlich, augenzwinkernd oder monumental. Und sie lassen sich erlaufen: als choreografierte Abfolge oder in freier Bewegung.
Die Route beginnt am Kunstverein in der Hauptstraße 42 – einer ehemaligen Sparkassenfiliale, die selbst gerade in Transformation begriffen ist. Gleich an der Ecke zur Gartenstraße steht eines der drei fiktiven Straßenschilder von Lena Henke: MYDRWONINGDOWNTOWN – ein melancholisch-ironischer Gruß aus einer nicht existierenden urbanen Realität, ausgeführt in typischem New Yorker Grün, hier im Zentrum von Wiesen, mit Blick auf den seit Jahrzehnten geschlossenen Metzgerladen.
Von dort führt der Weg zur Bushaltestelle „Dorfmitte“, wo Gašper Kunšičs permanente Arbeit Carrying a Mountain and a Scent of Meadows in einem der Wartehäuschen hängt – eine malerisch verfremdete Erinnerung an Kindheit, Landschaft und Zugehörigkeit, zwischen Fahrplan, Glaswand und Liniennetz. Kunšičs Motive speisen sich aus serbischer Folklore, religiöser Symbolik und dekorativer Ornamentik – hier treffen sie auf regionale Spessart-Muster und dörfliche Zeichenwelten.
Vorbei am Maibaum zur Dreschhalle, vor deren Stirnseite Christian Jankowskis Weather Flag an einem Fahnenmast hängt: eine großformatige Fahne, die sich im Wind dreht und wendet – und auf der der Künstler sich an den Füßen eines Kurators festklammert. Eine doppelte Metapher für Abhängigkeit: die des Künstlers vom institutionellen Kontext, und die der Fahne vom Wetter. In der ehemaligen Halle für Getreide trifft das Bild den Ort: Auch die Ernte war hier stets abhängig vom Wind, vom Regen, vom Außen.
Man biegt ein in die Gartenstraße, läuft am Weiher vorbei zur ehemaligen Feuerwehr. Auf ihrer Rückseite, nur sichtbar von einer kleinen Brücke über den Aubach, ist Yngve Holens Arbeit Butterfly montiert – ein Fragment eines Flughafenzauns des Frankfurter Flughafens, aus Aluminium gefertigt, als sei es gerade aus einer Sicherheitszone gefallen. Das industriell präzise gefertigte Objekt trifft auf die verwitterte Rückwand des Gebäudes, neben drei Bienenstöcken, in denen es summt und brummt. Ein Betrieb wie am Flughafen.
Ein Stück weiter, dem Aubach entlang und über die Hauptstraße hinweg, kommt man zum Gasthaus „Kreuzwirt“. Früher Brauereiausschank, heute deutsch-indisches Restaurant mit Biergarten. Hier steht Felix Kultaus Totem – eine leuchtende Skulptur aus durchbohrten Vasen, Glas und Neon, gestapelt zu einer Figur, die gleichermaßen Wegmarke wie Lichtquelle ist. Die Vasen erinnern an touristische Mitbringsel – Gartendeko, Fake-Klassiker – jetzt transformiert zu einem aufgeladenen Objekt zwischen Ornament und Ritual. Totem changiert zwischen Baumarkt und postmodernem Museum – ein rätselhaftes Objekt zwischen Hochglanz und Alltagskultur.
Direkt um die Ecke, an der Kreuzung von Kirchweg, Hauptstraße und Sternstraße, hängt Lena Henkes zweites Schild: OURCRUELCROSSING. Der Ort, an dem drei Wege zusammenlaufen, wird zum realen wie metaphorischen Schnittpunkt. Das Schild hängt über dem Weg zur Kirche – dem Kirchweg – und in Sichtweite der Sternstraße. Als würde hier eine soziale oder emotionale Kreuzung verhandelt, nicht nur eine geografische. Our Cruel Crossing.
Der Weg führt hinauf zur Kirche St. Jakobus, vorbei an Schlossmauer und dem Hauptportal der Kirche, weiter zum Rathaus. Auf der alten Sandsteinmauer zwischen beiden Gebäuden balanciert Gregor Hildebrandts Der Springer – eine bronzene Schachfigur, platziert im Machtfeld von Religion und Verwaltung, Glaube und Gesetz. Der Springer ist die einzige Figur im Spiel, die springen darf – und wird so zur Metapher für Bewegung zwischen Hierarchien, für strategische Umwege, für historische Verschiebungen. Die Figur oszilliert zwischen den institutionellen Polen von Staat und Kirche, Macht und Bewegung.
An der Ecke zur Dr.-Frank-Straße steht das dritte Schild von Lena Henke: THEIRMOLTENFREEWAY. Die romantisch gewundene Dorfstraße – kürzlich neu asphaltiert, sie glänzt noch – wird hier zur fiktiven Stadtautobahn. Ein Bruch in der Wahrnehmung, eine Überlagerung von Bildwelten, ein Hin und Her zwischen Beton und Bezeichnung.
Am Ende der Straße, gegenüber des Kindergartens, vor dem ehemaligen Rathaus – nun Kultur- und Jugendzentrum – wird im Oktober eine neue Eiche gepflanzt: zu Ehren von Joseph Beuys’ 7000 Eichen bei der documenta in Kassel, als soziale Plastik, kollektives Zeichen und neue Setzung auf dem sogenannten Kulturhügel von Wiesen.
Auf dem Kulturhügel finden sich weitere, permanent installierte Arbeiten: Markus Kleinfelds antibodies vor der Grundschule – aus Beton gegossene, kugelförmige Skulpturen, die auf der Form von Hüpfbällen basieren und zwischen organischer Bewegung und architektonischer Statik changieren. Michael Sailstorfers Tränen – massive, vollgegossene Stahltropfen, die so lange auf ein leerstehendes Haus fielen, bis es unter ihrer Last einstürzte. Und seine Arbeit Wohnen mit Verkehrsanbindung – ein umgebautes Bushäuschen mit vollständiger Wohnzelle – auf einer Apfelbaumwiese darunter.
Verschoben ist keine Ausstellung im klassischen Sinn. Es ist ein Vorschlag. Ein Weg durch den Ort, durch Bedeutungen, durch Zeit. Die Arbeiten markieren Momente der Irritation, der Verwandlung, der Konzentration. Was sichtbar wird, ist nicht nur Kunst – sondern ein verändertes Sehen auf das, was da ist, was in Verbindung steht, was sich überlagert. Ein Blick auf Mechanismen des Zusammenlebens, auf Orte der Macht, auf Begriffe wie Dorf, Straße, Öffentlichkeit. Und auf das, was verschoben ist – in der Wahrnehmung, in der Bedeutung, im Raum.